Buchhandlung

Liebe Prinzessin ‘Ishka,

Es gab einmal eine englische Buchhandlung in Konstanz. Jetzt, an ihrer Stelle, steht ein Souvenirs Laden. Es handelt sich um keinen minderwertigen Laden, sondern um einen von diesen öko-chic Laden, die den gedankenlosen durchschnittlichen Grünen Wähler nicht verpassen darf. Es sieht sehr schön und ordentlich aus. Viel ordentlicher als die etwa rappelige englische Buchhandlung, die nicht mehr existiert. Vermutlich wird dieser Laden auch viel mehr Kunden bekommen als die englische Buchhandlung.

Klingt es, als ob ich die verstorbene englische Buchhandlug traue? Ja, und vermutlich traue ich sie tatsächlich. Die englische Buchhandlung existiert nicht mehr, weil die Besitzerin selbst verstorben ist. Sie war eine breite Frau mit weiß-grauen, lockigen Haaren. Nett aber sehr sparsam in ihrer Nettigkeit. Ich glaube, dass sie mich genau deswegen mochte. In Buchhandlungen bin ich ein leiser Kunde, der nicht viele Fragen stellt und nicht mag, gestört zu werden. Ich weiß auch oft genau, was ich will, auch wenn ich manchmal eine kurze Weile brauche, um zu rechnen, wofür es sich wirklich lohnt, Geld auszugeben.

Sie hatte mir verraten, dass sie mich mochte, weil ich ihr die Frage nie gestellt habe, die sie am häufigsten kriegte: „Könnten Sie bitte mir dabei helfen, ein Buch auf Englisch für ein Geschenk zu finden?“ Anscheinend gefiel ihr diese Frage nicht, weil die Kundin oder der Kunde nie spezifischere Hinweise als ‚Buch auf Englisch‘ geben konnte… in einer englischen Buchhandlug.

Name und Geschichte der Besitzerin kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass sie im ersten Lockdown in 2020 verstorben ist. Ich weiß auch nicht, ob Coronavirus eine Rolle gespielt hat, oder ob sie aus anderen Gründen ums Leben gekommen ist. Sie war nicht jung, aber sicher nicht so alt. Rund um 60 Jahre alt hätte ich geschätzt.

Die Preisen der Bücher waren oft hoch. Manchmal dachte ich mir zu hoch. Ich habe eine Essaysammlung von Bernard Williams für 50 Euro gekauft, auch wenn ich auf Amazon dieselbe für 20 Euro gekriegt hätte. Aber die Tatsache, dass eine englische Buchhandlung in Konstanz eine Essaysammlung von Bernard Williams hatte, fand ich an sich hinreichen, um das Buch zu kaufen, egal um welchen Preis. Heutzutage bereue ich meine Entscheidung noch nicht.

Als die Buchhandlung aufhatte, habe ich viele Bücher gekauft, relativ zur geringen Zeitspanne von drei Monaten. Ich habe mich fast so wie ein Dieb gefühlt, als die Buchhandlug nach dem Lockdown wieder geöffnet wurde, um alle Bücher zu dem Hälften des ursprünglichen Preises auszuverkaufen. Es hat sich ein bisschen wie eine Beerdigung mit Räuberei angefühlt.

Der Grund warum es mir diese chaotische, dunkle, lückenhafte Buchhandlung so fasziniert hatte, war wahrscheinlich ihre hartnäckige und fast stolze Unordentlichkeit und Unangemessenheit in einer Stadt, die sonst sehr ordentlich und angemessen ist. Sie verkaufte englischen Bücher, oft mit einem hohen Niveau (zu hoch für Leute die Bücher kaufen, um sie zu verschenken), über Politik, Philosophie, aber natürlich auch Romane und Reiseführer, aber unsystematisch und ohne das Ziel Trends zu verfolgen, oder Kund*innen zu verführen. Die Buchhandlung widerspiegelte im Großen und Ganzen den linksorientierten Geschmack der Besitzerin, ganz unabhängig von dem Rest der Welt. Oder so gefällt’s mir daran zu denken.

Die Pandemie hat Konstanz von einem Symbol sozialer Resilienz beraubt und eine saubere sowie bedeutungslose Aktivität hat einen lebendigen Ort von Bildung und Aufklärung ersetzt. Oder, weniger hochtönend, sie hat mir von einem Ort beraubt, in dem ich mich echt wohl fühlte. Tatsächlich, was ich immer mehr verstehe, ist wie das, was sich nicht sozial oder wirtschaftlich lohnt, was nicht ‚rational‘ ist, wie eine eigenartige Buchhandlung, eigentlich unser Leben mit Bedeutung füllt. Wie eine Beziehung, die man sich nicht leisten kann, aber die trotzdem, in ihrer Hoffnungslosigkeit, Schönheit enthält.

Wenn etwas nicht funktioniert, zu viel kostet oder zu viel Schmerzen verursacht, und gegen alles was vernünftig ist, trotzdem gepflegt wird, dann zeigt sich etwas wesentliches über unsere Menschlichkeit. Das ist das Zeichen, dass wir uns selbst noch nicht verkauft haben. Dass wir nicht verrückt geworden sind.

Dann kommt die Zeit, sich von dieser ganzen, lebendigen Hoffnungslosigkeit zu verabschieden. Und wir bleiben mit einem Gefühl von Leere und Verwirrung. Konstanz wird nicht mehr dieselbe sein, und ich auch.

Für immer Dein,

‘Miasha

Author: letterstoishka

Blogging philosophy student. From my busy-bee mode to the daydreaming sloth mode there’s no in-between. Someone mistakes me for a wasp.

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